Agatha Christie  
  D E T E C T I V E  


"16 Urh 50 ab Paddington"

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[04-1] Der Name Lucy Eyelesbarrow war in gewissen Kreisen gut bekannt. Sie war zweiunddreißig Jahre alt, hatte in Oxford erfolgreich ihr Studium der Mathematik abgeschlossen, besaß, wie allgemein anerkannt wurde, einen hervorragenden Verstand, und jedermann erwartete, sie würde eine steile akademische Karriere machen.

Lucy Eyelesbarrow aber besaß außer ihrer Gelehrsamkeit noch einen vortrefflichen gesunden Menschenverstand. Es entging ihr nicht, daß eine akademische Laufbahn eine schlecht bezahlte war. Sie hatte nicht das geringste Verlangen zu lehren und bevorzugte den Umgang mit Leuten, die weniger intelligent waren als sie selber. Kurz, sie interessierte sich für Menschen, für alle Arten von Menschen - und nicht immer die gleichen. Außerdem hatte sie, wie sie freimütig zugab, Sinn für Geld. Um aber Geld zu verdienen, muß man sich einen Mangel zunutze machen.

Lucy Eyelesbarrow entdeckte sehr schnell einen außerordentlich ernsten Mangel - den Mangel an tüchtigen Kräften für den Haushalt. Zur Verwunderung ihrer Freunde und ihrer akademischen Kollegen wandte Lucy Eyelesbarrow sich daher der Hauswirtschaft zu.

Ihr Erfolg war unmittelbar und sicher. Jetzt, nach dem Verlauf einiger Jahre, war ihr Name auf den Britischen Inseln überall bekannt. Es war durchaus nichts Ungewöhnliches, daß eine Frau vergnügt zu ihrem Gatten sagte: лAlles hier wird ausgezeichnet laufen. Wir können zusammen in die Staaten fahren. Ich habe Lucy Eyelesbarrow bekommen!╗ Das Besondere bei Lucy Eyelesbarrow war nämlich: Wenn sie einmal zu jemandem ins Haus kam, dann verschwanden aus diesem aller Kummer, alle Sorge und alle schwere Arbeit. Lucy Eyelesbarrow tat alles, sah nach allem, ordnete alles. Sie war unglaublich tüchtig, und zwar auf jedem nur denkbaren Gebiet. Sie betreute ältere Angehörige, übernahm die Sorge für die kleinen Kinder, pflegte die Kranken, kochte ausgezeichnet, kam gut aus mit den schon lange zum Haus gehörenden Dienstboten, sofern welche da waren (für gewöhnlich waren welche da), war taktvoll auch den unmöglichsten Menschen gegenüber und verstand sich wundervoll auf Hunde. Das Beste aber war, daß sie keinerlei Arbeit scheute. Sie schrubbte den Fußboden in der Küche, buddelte im Garten, beseitigte den Schmutz, den die Hunde hinterlassen hatten, und schleppte Kohlen.

Einer ihrer Grundsätze war, daß sie niemals eine Verpflichtung für längere Zeit einging. Vierzehn Tage waren bei ihr das Übliche, unter ganz besonderen Umständen blieb sie einen Monat. In diesen vierzehn Tagen aber mußte man ihr einen hohen Lohn zahlen. Andererseits war das Leben während dieser Zeit der reine Himmel auf Erden. Man konnte sich völlig entspannen, konnte ins Ausland reisen, zu Hause bleiben, kurz, tun, was man wollte; denn man durfte sicher sein, daß unter Lucy Eyelesbarrows tüchtigen Händen daheim alles vortrefflich lief.

Natürlich war die Nachfrage nach ihren Diensten gewaltig. Wenn sie gewollt hätte, wäre es ihr ein leichtes gewesen, für ; drei Jahre im voraus feste Engagements zu erhalten. Man hatte ihr riesige Summen geboten für den Fall, daß sie sich entschließen könnte, auf Dauer zu bleiben. Aber Lucy hatte nicht die Absicht, dergleichen zu tun. Und sie verpflichtete ich auch nie mehr als sechs Monate im voraus. In der übrigen Zeit sorgte sie ohne Wissen der nach ihr schreienden Kundschaft dafür, daß sie immer gewisse Freizeiten hatte, die es ihr entweder ermöglichten, eine kurze, kostspielige Reise zu machen (denn sie gab sonst nichts aus und wurde, wie gesagt, glänzend bezahlt), oder ganz plötzlich einen Auftrug zu übernehmen, der ihr entweder wegen seines Charakters oder weil sie die Leute gut leiden mochte, zusagte. Sie konnte sich ihre Auftraggeber nach Lust und Laune aussuchen. Sie liebte ihre Lebensweise sehr und fand in ihr eine ständige Quelle der Unterhaltung.

Lucy Eyelesbarrow las zum dritten oder vierten Male den Brief, den sie von Miss Marple erhalten hatte. Vor zwei Jahren, als der bekannte Schriftsteller Raymond West sie engagiert hatte, damit sie nach seiner alten Tante sähe, die nach einer Lungenentzündung pflegebedürftig war, hatte sie Miss Marples Bekanntschaft gemacht. Lucy hatte den Auftrag angenommen und war nach St. Mary Mead gekommen. Miss Marple hatte ihr ausgezeichnet gefallen.

Miss Marple schrieb an Miss Eyelesbarrow und fragte sie, ob sie wohl einen Auftrag höchst ungewöhnlicher Art annehmen könnte.

Lucy Eyelesbarrow überlegte. Eigentlich war sie völlig ausgebucht, aber das Wort лungewöhnlich╗ und die Erinnerung an den persönlichen Eindruck, den Miss Marple auf sie gemacht hatte, siegten über ihre Bedenken. Sie rief sogleich bei Miss Marple an und erklärte ihr, sie könne nicht nach St. Mary Mead kommen, da sie im Augenblick in Stellung sei; am folgenden Nachmittag aber sei sie von zwei bis vier Uhr frei und könne Miss Marple in London in ihrem Club treffen.

[04-2] Lucy Eyelesbarrow rührte ihren Gast in eins der ziemlich düsteren Schreibzimmer und sagte: лIch fürchte, ich bin im Augenblick sehr besetzt, aber vielleicht erzählen Sie mir erst mal, was ich tun soll?╗

лDie Sache ist sehr einfach╗, entgegnete Miss Marple. лUngewöhnlich, aber einfach. Ich möchte, daß Sie eine Leichefinden.╗

Im ersten Augenblick kam Lucy der Verdacht, Miss Marple sei geistig aus den Fugen geraten. Aber sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Miss Marple war unbedingt bei vollem Verstand. Sie meinte genau, was sie gesagt hatte.

лWas für eine Leiche?╗ fragte Lucy Eyelesbarrow mit bewundernswertem Gleichmut.

лEine Frauenleiche╗, antwortete Miss Marple. лDie Leiche einer Frau, die in einem Zug ermordet - genauer gesagt: erdrosselt wurde.╗

Lucys Augenbrauen stiegen ein wenig in die Höhe.

лIch muß schon sagen, das ist wirklich etwas Ungewöhnliches. Erzählen Sie!╗

Miss Marple erzählte. Lucy Eyelesbarrow lauschte aufmerksam, ohne sie zu unterbrechen. Als Miss Marple geendet hatte, meinte sie:

лElspeth McGillicuddy ist nicht die Frau, die sich leicht etwas einbildet. Deshalb verlasse ich mich unbedingt auf das, was sie gesagt hat.╗

лIch verstehe╗, sagte Lucy nachdenklich. лSetzen wir also voraus, daß alles so war, wie sie es erzählt hat. Und was kann ich dabei tun?╗

лSie haben auf mich sehr großen Eindruck gemacht╗, erwiderte Miss Marple. лUnd ich selbst, um die Wahrheit zu gestehen, besitze heute nicht mehr die nötigen Kräfte, um herumzulaufen und alles selber zu tun.╗

лSie möchten also/ daß ich Erkundigungen einziehe? Ich soll Nachforschungen anstellen? Meinen Sie das? Aber hat das die Polizei nicht längst getan? Oder glauben Sie, daß sie nachlässig gearbeitet hat?╗

лO nein╗, erwiderte Miss Marple. лDurchaus nicht. Sie hat nicht nachlässig gearbeitet. Aber ich habe mir nun einmal eine Theorie über den Verbleib der ermordeten Frau zurechtgelegt. Irgendwo muß die Leiche doch sein. Wenn sie nicht im Zug gefunden wurde, dann muß sie aus dem Zug gestoßen oder geworfen worden sein. Und doch hat man sie nirgends auf der Strecke gefunden. Daher habe ich mich in den Zug gesetzt und nach einer Stelle gesucht, an der die Leiche hätte aus dem Zug geworfen werden können, ohne daß sie auf der Strecke gefunden worden wäre - und ich fand tatsächlich eine solche Stelle. Die Bahnlinie beschreibt kurz vor Brackhampton eine große Kurve, und zwar am Rande eines hohen Bahndamms. Wurde die Leiche dort aus dem Zug geworfen, der in diesem Augenblick etwas schief lag, dann halte ich es für höchst wahrscheinlich, daß sie den Damm hinunterstürzte.╗

лAber sicherlich wäre sie auch dort gefunden worden?╗

лGewiß. Deshalb muß sie entfernt worden sein... Aber darauf komme ich gleich. Hier ist die Stelle. Sehen Sie sich diese Karte mal an.╗ - Lucy beugte sich vor und blickte auf den Punkt, auf den Miss Marples Finger deutete.

лDie Stelle liegt jetzt in den Außenbezirken von Brackhampton╗, fuhr Miss Marple fort. лUrsprünglich aber war dort ein Landsitz mit einem weitläufigen Park, Feldern und dergleichen. Er befindet sich auch jetzt noch dort, ist aber umringt von Baugelände und kleinen Vorstadthäusem. Rutherford Hall - so heißt der Landsitz - wurde von einem sehr reichen Fabrikanten namens Crackenthorpe im Jahre 1884 gebaut. Der Sohn dieses Crackenthorpe, ein älterer Herr, lebt dort, soviel ich weiß, mit einer Tochter.╗

лUnd was soll ich tun? Was erwarten Sie von mir?╗

Miss Marple erwiderte sofort: лIch möchte, daß Sie dort in Stellung gehen. Jeder reißt sich heutzutage um eine tüchtige Wirtschafterin. Ich kann mir nicht denken, daß es für Sie schwierig wäre, in Rutherford Hall eine Stelle zu finden.╗

лSchwierig wäre es wohl kaum.╗

лWie ich höre, ist Mr. Crackenthorpe allgemein als Geizkragen bekannt. Wenn Sie sich dort mit einem niedrigen Lohn einverstanden erklären, werde ich diesen so ergänzen, daß Sie mit einem besseren Entgelt rechnen können als gewöhnlich.╗

лWegen der Schwierigkeit des Auftrags?╗ лWeniger wegen der Schwierigkeit als wegen der Gefahr. Ich kann nicht verhehlen, daß dieser Auftrag eine gewisse Gefahr einschließt. Es ist nur recht und billig, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache.╗

лIch glaube nicht╗, meinte Lucy nachdenklich, лdaß der Gedanke an eine Gefahr mich abschrecken könnte.╗

лDas hatte ich auch nicht erwartet╗, lächelte Miss Marple. лSie glaubten wohl eher, der Gedanke an eine Gefahr könnte für mich etwas Verlockendes haben? Ich war nur sehr selten in meinem Leben einer Gefahr ausgesetzt. Aber glauben Sie wirklich, die Sache könnte gefährlich werden?╗

лJemand╗, erwiderte Miss Marple ernst, лhat ein sehr erfolgreiches Verbrechen begangen. Es hat keinerlei Aufsehen erregt, keinen wirklichen Verdacht erweckt. Zwei ältere Damen haben eine recht unwahrscheinliche Geschichte erzählt, die Polizei hat Nachforschungen angestellt und nichts Belastendes gefunden. Alles ist also ruhig und still. Ich glaube nicht, daß der Unbekannte, wer er auch sein mag, auf den Gedanken kommt. Sie stellten Nachforschungen an - es sei denn. Sie haben Erfolg.╗ лUnd wonach soll ich Ausschau halten?╗ лNach irgendwelchen Spuren am Bahndamm - Stoffetzen, geknickte Zweige und dergleichen.╗ Lucy nickte. лUnd dann?╗

лIch werde ganz in der Nähe sein╗, erwiderte Miss Marple. лEin früheres Dienstmädchen, meine treue Florence, wohnt in Brackhampton. Sie hat jahrelang für ihre alten Eltern gesorgt. Jetzt sind sie beide tot, und Florence vermietet Zimmer an achtbare Leute. Ich habe mit ihr ausgemacht, daß ich bei ihr wohnen kann. Sie wird mich vorbildlich umsorgen, und ich möchte gern in der Nähe sein. Ich schlage daher vor. Sie erwähnen in Rutherford Hall, ein alte Tante von Ihnen lebe in der Nachbarschaft, und deshalb möchten Sie gern in einer Stellung tätig sein, die es Ihnen erlaubt, sie öfters zu besuchen. Sie stellen damit von vornherein die Bedingung, daß man Ihnen reichlich freie Zeit einräumt.╗

Wieder nickte Lucy.

лIch hatte die Absicht, übermorgen nach Taormina zu reisen╗, sagte sie. лAber mein Urlaub kann warten. Mehr als drei Wochen könnte ich Ihnen aber nicht zur Verfügung stehen, denn dann bin ich besetzt.╗

лDrei Wochen sind reichlich genug╗, erklärte Miss Marple. лWenn wir in drei Wochen nichts entdecken, können wir die Sache ruhig als aussichtslos aufgeben.╗

Miss Marple verabschiedete sich, und Lucy überlegte nur einen Augenblick. Dann rief sie in einem Stellenvermittlungsbüro in Brackhampton an, dessen Inhaberin sie gut kannte. Sie sagte, sie wünsche eine Beschäftigung in der Nachbarschaft, um in der Nähe ihrer лTante╗ zu sein. Sie lehnte mit einiger Schwierigkeit und sehr viel Geschick mehrere recht günstige Angebote ab, bis schließlich Rutherford Hall genannt wurde.

лDas scheint genau das zu sein, was ich suche╗, erklärte Lucy. Das Stellenvermittlungsbüro rief in Rutherford Hall an, und Miss Crackenthorpe setzte sich telefonisch mit Lucy in Verbindung. Zwei Tage später verließ Lucy Eyelesbarrow London, um sich nach Rutherford Hall zu begeben.

[04-3] Lucy Eyelesbarrow lenkte ihren kleinen Wagen durch das imposante Tor. Zur Rechten lag ein Häuschen, das ursprünglich wohl einen Pförtner beherbergt hatte, jetzt aber völlig verfallen aussah. Eine lange, kurvenreiche Auffahrt führte zu dem Haus. Lucy staunte, als sie dieses plötzlich vor sich liegen sah. Es war gewissermaßen eine Miniaturnachbildung von Schloß Windsor. Die steinernen Stufen vor der Eingangstür sahen vernachlässigt aus, und der Kiesweg war von wild wucherndem Unkraut ganz grün gefärbt.

Sie zog an einem schmiedeeisernen Glockenstrang, und kurz darauf öffnete eine schlampig aussehende Frau, die sich die Hände an ihrer Schürze abwischte, die Tür und musterte sie argwöhnisch.

лWerden wohl erwartet?╗ fragte sie. лIrgendwas mit Barow?╗

лGanz recht╗, erwiderte Lucy.

Das Innere des Hauses strömte eine empfindliche Kälte aus. Lucy folgte ihrer Führerin durch die lange, dunkle Halle in das Wohnzimmer, das mit seinen Bücherregalen und Polstermöbeln einen recht behaglichen Eindruck machte.

лIch werde es ihr sagen╗, brummte die Frau, warf einen mißbilligenden Blick auf Lucy und verließ das Zimmer.

Nach einigen Minuten trat Miss Emma Crackenthorpe ein, eine Frau in mittleren Jahren, die Lucy gleich auf den ersten Blick gefiel. Sie hatte nichts Auffallendes an sich, sah weder ausgesprochen gut noch unscheinbar aus, trug Tweedrock und Pullover, hatte dunkles Haar, nußbraune Augen und eine recht angenehme Stimme.

лMiss Eyelesbarrow?╗ fragte sie freundlich und reichte ihr die Hand.

лIch weiß nicht recht╗, sagte sie dann etwas zweifelnd, лob diese Stellung wirklich Ihren Wünschen entsprechen wird. Ich brauche keine Haushälterin, ich brauche jemanden, der die Arbeit macht. Viele Leute meinen, es handle sich einfach um ein wenig Staubwischen und dergleichen; aber das Staubwischen kann ich selber besorgen.╗

лIch verstehe╗, sagte Lucy. лSie brauchen jemanden, der kocht und abwäscht, der die Hausarbeiten erledigt und den Heizkessel in Betrieb hält. Das ist mir schon recht. Ich scheue durchaus keine Arbeit.╗

лLeider ist es ein großes Haus, und es macht viel Mühe. Wir bewohnen freilich nur einen Teil - mein Vater und ich. Er ist kränklich, und wir führen ein ganz ruhiges Leben. Ich habe mehrere Brüder, aber sie sind nur selten hier. Zwei Frauen helfen bei der Arbeit: Mrs. Kidder jeden Morgen und Mrs. Hart dreimal wöchentlich, um das Messing zu putzen und dergleichen. Sie haben einen eigenen Wagen?╗

лJa. Aber er kann im Freien stehen, wenn er sich nirgends unterbringen läßt. Er ist es gewohnt.╗

лOh, es sind genügend alte Ställe vorhanden. Die Unterbringung des Wagens macht keine Schwierigkeiten.╗ Miss Crackenthorpe schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: лEyelesbarrow ist ein ungewöhnlicher Name. Freunde von mir erwähnten einmal eine Lucy Eyelesbarrow - die Kennedys.╗

лJa. Ich war bei ihnen in North Devon, als Mrs. Kennedy i ein Kind erwartete.╗ Emma Crackenthorpe lächelte.

лSie waren ganz begeistert von Ihnen, Sie hätten sich um alles so hervorragend gekümmert. Aber ich dachte. Sie stellten sehr hohe Forderungen? Die Summe, die ich nannte -╗

лDas geht in Ordnung╗, sagte Lucy. лMir liegt in erster Linie daran, in der Nähe von Brackhampton zu sein. Dortа wohnt eine alte Tante von mir, um deren Gesundheit es schlecht bestellt ist, und ich möchte sie leicht erreichen können. Darum spielt das Gehalt eine untergeordnete Rolle. Ich kann es mir nur nicht leisten, gar nichts zu tun. Aber es ist mir wichtig, täglich einige freie Stunden zur Verfügung zu haben.╗

лSelbstverständlich. Sie können jeden Nachmittag bis sechs Uhr frei haben, wenn Ihnen das genügt.╗

лAusgezeichnet.╗

Miss Crackenthorpe zögerte etwas, bevor sie sagte: ╗Mein Vater ist ziemlich alt und bisweilen - etwas schwierig. Er hält sehr auf Sparsamkeit, und manchmal sagt er Dinge, die die - Leute vor den Kopf stoßen. Ich möchte nicht gern -╗

Lucy unterbrach sie schnell:

лIch bin an ältere Leute jeder Art gewöhnt╗, sagte sie. лIch komme stets gut mit ihnen zurecht.╗

Emma Crackenthorpe atmete erleichtert auf.

Es wurde Lucy ein großes, ziemlich düsteres Schlafzimmer angewiesen. Dann zeigte ihr Miss Crackenthorpe das Haus, das einen recht unwohnlichen Eindruck machte. Als sie an einer Tür in der Halle vorübergingen, brüllte jemand von drinnen:

"Bist du's, Emma? Das neue Mädchen da? Bring es rein!╗

Emma errötete und blickte Lucy, um Verständnis bittend, an.

Die beiden Frauen traten in das Zimmer. Das schmale Fenster ließ nur wenig Licht herein, und der Raum war mit schweren Mahagonimöbeln vollgestellt.

[04-4] Der alte Mr. Crackenthorpe saß in einem Rollstuhl, einen Stock griffbereit neben sich. Er war ein großer, magerer Mann, hatte ein Gesicht wie eine Bulldogge und mißtrauisch blickende Augen.

лLassen Sie sich ansehen, junge Frau.╗

Lucy trat vor und blickte ihn lächelnd an.

лEins müssen sie von vornherein wissen. Daß wir in einem großen Haus wohnen, bedeutet nicht, daß wir reich sind. Wir sind nicht reich. Wir leben einfach. Hören Sie? Einfach! Machen Sie sich keine übertriebenen Vorstellungen. Kabeljau ist allemal ein ebenso guter Fisch wie Steinbutt. Vergessen Sie das nicht. Ich hasse jede Verschwendung. Ich lebe hier, weil mein Vater das Haus gebaut hat und es mir gefällt. Wenn ich tot bin, können sie es verkaufen, wenn sie wollen. Ich nehme an, sie werden es tun. Haben keinen Familiensinn. Das Haus ist gut gebaut, es ist solide, und wir haben unser eigenes Land rundherum. Leben ganz für uns. Der Besitz würde viel Geld einbringen, wenn er als Baugrund verkauft würde. Aber nicht, solange ich lebe. Sie werden mich nicht hier herausbekommen, es sei denn: die Füße voran.╗

лIhr Haus ist Ihre Burg╗, bemerkte Lucy.

лMachen Sie sich lustig über mich?╗

лGanz und gar nicht. Ich finde es sehr aufregend, mitten in der Stadt einen Landsitz zu haben.╗

лGanz recht. Man sieht kein anderes Haus von hier aus, nicht wahr? Felder mit Kühen darauf - mitten in Brackhampton. Man hört den Verkehr ein wenig, wenn der Wind entsprechend steht - aber sonst ist es ganz still.╗

Ohne eine Pause zu machen oder den Ton zu ändern, fuhr er, an seine Tochter gewandt, fort:

лRuf bei dem verwünschten Narren, dem Doktor, an. Sag ihm, die letzte Medizin tauge nichts. Und laß die verflixte Frau, die immer herumschnüffelt, hier drinnen keinen Staub mehr wischen. Sie hat alle meine Bücher durcheinandergebracht.╗

Als sie wieder draußen waren, fragte Lucy: лIst Mr. Crackenthorpe schon lange kränklich?╗ Emma antwortete etwas ausweichend: лSeit Jahren schon... Hier ist die Küche.╗ Die Küche war riesengroß und ziemlich unordentlich.

Lucy fragte, wann gegessen würde, und warf einen Blick in die Speisekammer. Dann sagte sie lächelnd zu Emma Crackenthorpe:

лJetzt weiß ich Bescheid. Seien Sie unbesorgt! Überlassen Sie nur alles mir.╗

Emma Crackenthorpe seufzte erleichtert, als sie an diesem Abend zu Bett ging.

[04-5] Lucy stand am nächsten Morgen um sechs Uhr auf. Sie bestellte das Haus, bereitete das Gemüse für Mittag vor und servierte das Frühstück. Gemeinsam mit Mrs. Kidder machte sie die Betten, und um elf Uhr saßen sie beide in der Küche und tranken starken Tee. Besänftigt durch die Tatsache, daß Lucy лsich nichts einbildete╗, und auch unter der Wirkung des starken und süßen Tees, ließ sich Mrs. Kidder zu einem Schwätzchen herbei. Sie war eine kleine, magere Frau mit schmalen Lippen und strengem Blick.

лEin richtiger alter Knauser ist er! Was sie alles mit ihm durchzumachen hat! Aber sie läßt sich nicht unterkriegen. Wenn es sein muß, setzt sie ihren Kopf durch. Sooft die Herren herkommen, sorgt sie dafür, daß es etwas Ordentliches zu essen gibt.╗ лDie Herren?╗

лJa. Es ist eine große Familie. Der Älteste, Mr. Edmund, fiel im Krieg. Mr. Cedric lebt irgendwo im Ausland. Er ist unverheiratet. Malt Bilder in fremden Ländern. Mr. Harold wohnt in London; er hat die Tochter eines Grafen geheiratet. Dann ist da noch Mr. Alfred, ein ganz sympathischer Mensch, aber so etwas wie das schwarze Schaf der Familie. Hat hin und wieder Dummheiten gemacht. Zur Familie gehört außerdem Mrs. Ediths Gatte, Mr. Bryan. Sie selber starb vor ein paar Jahren. Schließlich ist da noch Master Alexander, Mrs. Ediths Sohn. Er ist im Internat, verbringt aber immer einen Teil seiner Ferien hier. Miss Emma hängt sehr an ihm.╗ Lucy nahm alles in sich auf, was Mrs. Kidder ihr berichtete, und nötigte sie immer wieder, noch eine Tasse Tee zu trinken. Schließlich erhob sich Mrs. Kidder widerstrebend.

лIst heute morgen wohl allerlei zu tun╗, brummelte sie. лSoll ich Ihnen beim Kartoffelschälen helfen?╗

лDie sind schon geschält.╗

лSie legen aber tüchtig los!╗ bemerkte Mrs. Kidder sichtlich befriedigt. лKann ich dann gehen?╗

Als Mrs. Kidder fort war, machte Lucy sich sofort daran, den Küchentisch abzuschrubben. Eigentlich wäre das Mrs. Kidders Arbeit gewesen, aber sie hatte die Frau nicht brüskieren wollen. Dann reinigte sie das Silber, bis es in Hochglanz erstrahlte. Sie kochte das Mittagessen, räumte ab, wusch das Geschirr, und um halb drei Uhr war sie soweit, daß sie mit den Nachforschungen beginnen konnte.

Sie machte zunächt einen Rundgang durch die Gärten. Der Küchengarten sah kümmerlich aus. Es war nur spärlich Gemüse gepflanzt. Die Treibhäuser waren verfallen, die Wege überall von Unkraut überwuchert. Nur ein Streifen in der Nähe des Hauses war frei von Unkraut und in gepflegtem Zustand. Der Gärtner war ein uralter, schwerhöriger Mann, der nur so tat, als arbeite er. Er wohnte in einem Häuschen neben dem großen Stall.

Aus dem Hof mit den Nebengebäuden führte ein eingezäunter Fahrweg durch den Park und mündete nach einer Eisenbahnunterführung in einen schmalen Weg.

Alle paar Minuten donnerte ein Zug über die Unterführung hinweg. Lucy beobachtete die Züge, die ihre Fahrt verlangsamten, sobald sie in die langgezogene Kurve einbogen, die Mr. Crackenthorpes Besitz einfaßte. Sie ging durch die Unterführung und gelangte auf den Heckenweg, der nur wenig benutzt zu werden schien. Auf der einen Seite befand sich der Bahndamm, auf der ändern eine hohe Mauer, die einige Fabrikgebäude umschloß. Lucy ging bis zur Einmündung einer Straße mit kleinen Häusern. Unweit hörte sie das geschäftige Summen des Verkehrs einer Hauptstraße. Sie blickte auf ihre Uhr. Eine Frau trat aus einem der Häuser. Lucy sprach sie an:

лEntschuldigen Sie, aber könnten Sie mir sagen, ob man hier irgendwo telefonieren kann?╗

лDas Postamt befindet sich an der nächsten Straßenecke.╗

Lucy dankte und ging weiter, bis sie die Post fand, die gleichzeitig ein Kaufladen war. In einer Ecke war eine Telefonzelle. Lucy rief bei Miss Marple an. Eine weibliche Stimme sagte ziemlich grob:

лSie ruht. Ich denke nicht daran, sie zu stören. Sie braucht Ruhe. Wer sind Sie? Ich werde ihr ausrichten, daß Sie angerufen haben.╗

лMiss Eyelesbarrow. Sie brauchen sie nicht zu stören. Sagen Sie nur, ich sei angekommen, alles liefe nach Wunsch, und ich würde mich wieder melden, wenn es etwas Neues gäbe.╗

Lucy legte den Hörer auf und kehrte nach Rutherford Hall zurück

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